„Meine Mutter ist gestern gestorben.“ Diese Worte einer Freundin erreichten mich kürzlich per E-Mail. „Gerade jetzt, wo mich die Geschehnisse in der Welt ohnehin beunruhigen und ich mein Vertrauen, meine Freude und Inspiration schon vorher kaum noch finden konnte“, fuhr sie fort – und ließ mich berührt und still zurück.

Schnell sind wir dabei, in solchen Momenten Trost auszusprechen, aufmuntern zu wollen, zu versuchen, auf den Lichtstreifen am Horizont und auf die sichere künftige Wiederkehr all der guten, aufbauenden, positiven Aspekte des Lebens zu verweisen. Doch auch, wenn alle diese Gedanken ihren Wert in sich tragen und zumeist aus aufrichtigem Herzen stammen, so verzögern oder verhindern sie paradoxerweise oft eine echte „Heil-Werdung“, weil sie den wichtigsten und wohl auch heilsamsten Schritt überspringen.

 

Der Trauer Zeit geben – und sie annehmen

Früher gab es ein „Trauerjahr“, wenn ein naher Angehöriger verstorben war. Das hatte einen guten Grund: Trauer braucht Zeit. Trauer braucht Zuwendung und Hingabe. Trauer braucht Mitgefühl und bedingungsloses Verständnis, gerade am Anfang. Vor allem aber braucht Trauer eins: Akzeptanz.

Das Gefühl von Trauer lässt sich eben nun mal nicht einfach „wegmachen“, genauso wenig, wie ihr Entstehungsgrund ungeschehen gemacht werden kann. Sie ist da. Und sie bleibt – niemand weiß im Voraus, wie lange. Beim Einschlafen, beim Aufwachen, beim Mittagessen und Einkaufen macht sie sich bemerkbar. Manchmal scheint es, als ob sie abwesend sei, nur um gleich darauf wieder hervorzubrechen. Manchmal noch Jahre später.

Wir haben doch aber gelernt, stark und tapfer zu sein, „gute Miene zum bösen Spiel“ zu machen, so schnell wie möglich die „Kontrolle“ zurückzugewinnen und wieder scheinbar perfekt zu funktionieren. Und nun? Der vermeintliche Kontrollverlust macht die ganze Sache unbewusst noch schlimmer. Wir spüren, dass wir eben nicht alles in der Hand haben, und das macht uns Angst. Um uns zu schützen, verschließen wir uns – und sperren damit, ohne es zu wollen, gleichzeitig unsere Fähigkeit aus, berührbar zu sein, tief zu lieben und uns im Urvertrauen an das Leben zu entfalten.

Dabei ist Trauer – genau wie alle anderen „negativen“ Gefühle, auch Angst – nicht in sich „schlecht“. Das Herausfordernde an ihr ist in Wahrheit unser Widerstand gegen sie, gegen das, was sie ausgelöst hat, gegen die Welt oder gegen das Schicksal – oft auch gegen uns selbst. Wir verschenken viel, wenn wir uns von ihr abwenden oder innerlich versuchen, sie in einem sicheren kleinen Käfig wegzusperren. Und wir entfernen uns dadurch von uns selbst.

 

Der Trauer begegnen

Erinnerst du dich an einen jener kostbaren Momente, wo du nach langem Weinen nur noch erschöpft daliegen konntest, kaum fähig, deinen kleinen Finger zu heben? Und wie sich auf diese Weise eine ganz sanfte, beinahe erlösende Stille in dir ausbreiten konnte? Es gab in dem Augenblick in dir keinen Widerstand mehr gegen das, was war. Du hattest aus Erschöpfung losgelassen und aufgegeben. Ich mag das Wort „aufgeben“ sehr – es bedeutet, dass wir etwas „(hin)auf geben“, in die Hände von etwas Größerem legen, dorthin, wo es „auf-gehoben“ ist und somit nicht mehr auf deinen Schultern und deinem Herz lastet. Oft findet genau dann eine tiefgreifende Veränderung, Transformation oder Heilung statt, wenn wir zur Seite treten und das Leben einfach geschehen lassen können.

Natürlich sind „loslassen“, „aufgeben“ und „geschehen lassen“ oft viel leichter gesagt als getan. Alte Ängste greifen nach uns und malen in düsteren Farben die auswegglose Zukunft aus. Ein kleiner, verletzter und deshalb wütender Anteil tief in uns tritt um sich und schreit nach Vergeltung. Ein anderer sitzt verzweifelt in der Ecke und hofft, möglichst schnell aus dem Albtraum aufzuwachen, dass ein Wunder geschehen und alles doch bitte wieder wie vorher sein möge. Inmitten unserer Trauer sind wir viel leichtere „Beute“ dieser Stimmungen und Gedanken.

Wir können dennoch lernen, uns unserer Trauer schrittweise zuzuwenden, uns ihr zu nähern, sie nicht mehr reflexartig von uns zu weisen. Jedes Mal, wenn wir ein bisschen mehr schaffen als vorher, ein bisschen weiter und ein bisschen mutiger uns das anschauen, was in uns auf unsere Zuwendung wartet, wachsen unser Vertrauen und unsere Zuversicht. Irgendwann können wir dann die Trauer, die Angst und sogar unsere Widerstände ganz annehmen, statt sie verändern oder wegdrücken zu wollen. Und – vielleicht nicht ohne Überraschung – lässt sich erkennen, dass sie in Wirklichkeit gesunde, ganz normale Ausdrucksformen dessen sind, was sich gerade in uns bewegt. Nicht mehr und nicht weniger. Genau wie Freude und Leichtigkeit gehören sie zu unserem Leben dazu. „Heilung“ und „heil“ sind sprachgeschichtlich eng mit der Bedeutung „ganz“, „vollständig“ verbunden – wenn wir verstehen, dass alles zum Leben dazugehört, geschehen kleine und große Wunder. So erleben wir zum Beispiel, wie inmitten des Sturms auf einmal alles ruhig in uns ist und wir beginnen zu lächeln.

 

 Übung: Deine Trauer umarmen und dich freischreiben

Sobald dich das nächste Mal Trauer besucht (oder Angst, Unsicherheit, Niedergeschlagenheit, Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit) nimm dir Zeit für sie – und für dich. Zieh dich zurück, atme bewusst ein und aus und werde dann still. (Ich mag sehr gerne eine Kerze dabei anzünden.)

Spüre zunächst, was gerade da ist, was gefühlt werden möchte. Umarme dich innerlich in Gedanken. Lege dazu auch deine Hände auf Bauch und Brust und atme bewusst in sie hinein. Wie fühlt sich deine Trauer an? Hat sie eine Farbe, eine Temperatur? Wo im Körper spürst du „Trauer“? Wie sieht sie aus? Wenn dein Kopf zur „Geschichte“ der Trauer, zu ihren Auslösern oder vermeintlichen Gründen zurückkehrt, führe deine Aufmerksamkeit wieder sanft zu deinem Gefühl zurück.

Wenn du ganz ruhig geworden bist und dich mit dir selbst verbinden hast, lass im zweiten Schritt Bilder, Gedanken und Erinnerungen zu. Es kann überraschend sein, was sich zeigt (vor allem, wenn es sich vom aktuellen Anlass deiner Trauer entfernt). Deine innere Führung weiß, was sie dir zeigen möchte. Folge ihr. Gib dich ihr hin. Spüre dabei weiterhin in deinen Körper hinein.

Wenn du merkst, dass sich genug zeigen durfte, wenn du ganz bei dir und mit dir und deiner Trauer bist, wenn sie sein darf – dann nimm ein Blatt Papier und einen Stift und schreibe drauf los. Lass alles aufs Papier fließen, was du zuvor gesehen, gespürt und entdeckt hast, dazu auch das, was jetzt beim Schreiben noch hinzukommt. Nimm wahr, wenn mit jedem Wort, jeder Zeile dein Herz ein bisschen leichter wird. Sei in Frieden damit, wenn es dafür noch Zeit braucht.

Wiederhole diese Übung in den nächsten Tagen immer wieder. Mach das Papier zu deinem besten Freund, dem du alles anvertrauen kannst. Irgendwann wird der Moment kommen, wenn du deinen Fokus wieder verändern möchtest. Es kann gut sein, dass du dich auf einmal viel leichter fühlst. Manchmal entsteht in solchen Momenten auch der Wunsch, eigene wichtige Fragen zu klären: Was wünscht sich dein Herz wirklich? Wofür stehst du morgens auf? Was möchtest du unbedingt noch in die Welt bringen? Wie möchtest du dich mit anderen künftig verbinden? Wenn du magst, schreibe auch darüber.

Wenn du einmal die Erfahrung gemacht hast, wie heilsam und erleichternd das „Dich-mit-dir-Verbinden“ und das Aufschreiben all deiner Gedanken, Gefühle, deiner Trauer und deinen Hoffnungen und Sehnsüchten ist, weißt du, wie sehr dir diese Übung immer wieder helfen und unterstützen kann.

Ja, es kann sein: Vielleicht geht ein Teil deiner Trauer nie weg und taucht auch künftig immer mal wieder auf deinem Weg auf, der noch vor dir liegt. Auch das gehört zum Menschsein und zu deinem Leben dazu. Gleichzeitig hast du mit dem Schreiben immer einen Begleiter an deiner Seite, der dir hilft, jenen Trost in dir zu finden, der dich trägt, dich auf das auszurichten, was für dich im Leben wirklich zählt – und zu entdecken, dass du in Wirklichkeit heil und „ganz“ bist.