Wenn zwischen Weihnachten und Neujahr draußen der eisige Wind um die Häuser pfeift und die Nächte am längsten sind, lässt es sich bei Kerzenschein und einem heißen Tee so richtig schön gemütlich machen. Vielleicht liegt noch ein Duft von Weihnachtsplätzchen in der Luft, während Kamin oder Heizung für wohlige Wärme sorgen. Die Gedanken dürfen wandern – zu Menschen, die uns nahe stehen, zu Dingen, die wir im zurückliegenden Jahr erlebt haben oder zu jenen Wünschen und Ideen über das, was noch vor uns liegt. Die Zeit um den Jahreswechsel war schon immer eine Zeit der Besinnung, des Abschließens und des Blicks auf das, was noch auf uns wartet. Der innere und äußere Rückzug kann dabei eine Hilfe sein, den Zugang zu sich selbst zu vertiefen und zu ganz neuen Einsichten zu kommen – er kann aber auch helfen, einen besseren Zugang zur eigenen Kreativität zu finden und so Figuren oder Geschichten zu entwickeln, die in der Hektik des Alltags vielleicht unbemerkt an uns vorübergegangen wären. Das Alte ist vorbei, das Neue noch nicht da, die sonst so klaren Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen – es entsteht Raum für Fantasie, die Gabe kindlicher Neugier und die Auseinandersetzung mit dem, was uns wirklich wichtig ist.
Die „Rauhnächte“ – die Tage zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar – hatten in alten Zeiten, als es noch keine Computer und kein Fernsehen gab, einen ganz besonderen Zauber. Die Menschen rückten näher zusammen, versammelten sich um die Ofenstelle im Haus und erzählten sich Geschichten und Märchen. Es war eine Zeit, so sagt man, in der der Schleier zur Welt der Geister durchlässig wurde, in der Botschaften empfangen, Orakel befragt und gute Wünsche mit Unterstützung von Räucher-Ritualen aufgegeben werden konnten. Es wurden kleine Tischchen für die Ahnen aufgestellt und mit Tannenzweigen, Moos und Kristallen geschmückt. Es gab außerdem bestimmte Rituale und Vorschriften für die Rauhnächte – die Zeit war geeignet für Reinigen, Aufräumen, Ordnen, um Schulden zurückzuzahlen, böse Geister mit Räuchern zu vertreiben, Dankesgaben auszulegen, zu segnen, Licht zu entzünden und von Herzen schenken. Arbeit sollte ruhen, Lärm war zu vermeiden.
Das Wort „Rauhnacht“ leitet sich vom mittelhochdeutschen „rûch“ ab („haarig“, „wild“), wohl aber auch vom das Winterwetter bezeichnenden „rau“ – und vom „Rauch“ aufgrund des Brauchs von Räucherungen zu dieser speziellen Zeit. Das althochdeutsche „rûna“, das in etwa „Geheimnis“ bedeutet, kann auch eine Wortwurzel der Rauhnächte sein und würde – gerade im Hinblick auf den magisch-mystischen Aspekt dieser Tage – Sinn ergeben. Der Ursprung der Rauhnächte liegt in den Naturreligionen der mitteleuropäischen Spiritualität: Nach den drei dunklen Nächten vom 21. Dezember (Wintersonnenwende) bis zum 24. Dezember wurde die Wiederkehr des Lichtes am 25. Dezember gefeiert. Denn obwohl der eigentliche Winter zu diesem Zeitpunkt des Jahres noch bevorsteht, beginnen tief im Boden die Samen wieder zu keimen – mythologisch ausgedrückt ist das Dunkle bereits besiegt.
Es ist eine geschenkte Zeit, diese Tage liegen quasi „zwischen den Jahren“, wie wir ja auch sagen. Ursprung der Berechnung war die Differenz zwischen mond- und sonnenbasiertem Kalender: Ein „lunares Jahr“ wurde früher in zwölf Mondmonaten mit 29,5 Tagen bemessen – von Neumond zu Neumond gerechnet –, hatte also insgesamt 354 Tage. Das unserer aktuellen Zeitmessung zugrunde liegende „solare Jahr“ dauert, wie wir wissen, 365 Tage. Die 11 Tage und 12 Nächte Differenz zwischen beiden bezeichnet man als die Rauhnächte, die „Zwischenzeit“. Früher glaubte man, dass die drei Nornen, die Schicksalsgöttinnen, in diesen Nächten am Spinnrad sitzen und besonders aktiv am Lebensfaden und am Schicksal weben. Die Rauhnächte werden daher auch „Losnächte“ genannt (von „losen“, „vorhersagen“, „sein Los ertragen“) – diese Zeit ist besonders gut dafür geeignet, Einblicke in das kommende Jahr zu erhalten, das heute noch gebräuchliche Bleigießen am Silvesterabend ist ein Brauch, der sich daraus ableitet. Jede der Rauhnächte steht dabei für einen Monat des kommenden Jahres (die erste Nacht, der 25.12., für den Januar, die zweite, der 26.12., für den Februar usw.). Eine Rauhnacht wird immer von Mitternacht bis Mitternacht gerechnet.
Als Schreibanregungen kannst du dir in dieser Zeit folgende Fragen stellen:
Die Zeit der Rauhnächte ist anders – was unterscheidet sie vom Alltag? Welche Impulse lassen sich gewinnen, das Immergleiche zu durchbrechen? Welche festgefahrenen Routinen kannst du lösen und verändern? Welche neuen Einsichten, Erfahrungen und Begegnungen, auch mit dir selbst, sind möglich?
Was kann noch „in Ordnung“ gebracht werden? Was sollte entrümpelt und sortiert werden – äußerlich und innerlich? Welche alten Rechnungen kannst du begleichen, wo kannst du Vergebung und Loslassen üben – wie leerst du dein eigenes „Gefäß“, damit Neues hineingefüllt werden kann?
Die Rauhnächte werden – mythologisch gesprochen – oft mit dem „Durchschreiten des großen Tores“, mit der Reise von der Dunkelheit ins Licht, in Verbindung gebracht. Durch welches Tor bist du selbst schon geschritten – oder hast es vor? Wohin führt dich deine innerste Sehnsucht? Welche Gabe kann durch dich ins Leben gebracht werden? Für was bis du hier eigentlich in diesem Leben angetreten?
Ein anderer Aspekt, der in dieser magischen Zeit in uns berührt wird, wenn wir es zulassen, ist die Gegensätzlichkeit: Wir erleben täglich Freude und Schmerz, können liebevoll oder ungerecht sein, fühlen uns mal himmelhochjauchzend, dann wieder zu Tode betrübt. Auch dies findet in den Rauhnächten seine mythologische Entsprechung und kann uns selbst und unserem Schreiben wichtige Impulse geben: Odin, auch Wotan genannt, war der Göttervater der nordischen Mythologie, der mit seinem Heer von Geistern und Seelen Verstorbener in der Zeit zwischen den Jahren über die Lande zog. Diese furchterregende „Wilde Jagd“ sorgte für Gerechtigkeit und Ausgleich, stand aber auch für Transformation und Erneuerung. Die weibliche Seite dieses Aspektes ist Frau Holle, die ihre Ursprünge in der nordischen Göttin Freya/Frigga hat und die vor allem mit Fruchtbarkeit, Leben und Tod in Verbindung gebracht wird. Sie verkündet am Ende der Rauhnächte, dem 6. Januar, den Sieg des Lichtes und den neuen Jahreszyklus. Die vor allem im alpenländischen Raum bekannten „Perchtenumzüge“ (Perchta ist ein anderer Name für Frau Holle) dienen noch heute dazu, böse Geister zu vertreiben, genau wie der Krach zu Silvester. Es gibt auch dabei sowohl die die guten „Schönperchten“ als auch die bösen „Schiechperchten“. Diese mythologischen Wurzeln spiegeln die polaren Kräfte der Rauhnächte: Hell und Dunkel, Geburt und Tod, Werden und Vergehen – alles gehört zum Leben dazu und verweist auf unsere eigene Polarität. Je besser du diesen Umstand annehmen kannst, desto „ganzer“ wirst du und desto besser findest du Zugang zu jenen Themen, die dann als authentische, kraftvolle Texte – autobiografisch oder fiktional – ihren Ausdruck finden.
So kannst du dich fragen, welche deine persönlichen „golden-lichtvollen Seiten sind – und welche die pech-dunklen? Und wie gehören sie zusammen? Inwiefern machen sie dich als Menschen erst aus? Was kann oder soll davon im kommenden Jahr verstärkt, was losgelassen werden? Oder wir beziehen uns auf den lunaren Aspekt und auf die Qualitäten der Frau Holle: Der Mond – „la luna“ – steht für das Weibliche, den natürlichen Rhythmus der Erde und der Natur, für Gefühle und Empfänglichkeit, für Innehalten und Rezeption, für Wandel und Veränderung. Welche dieser Qualitäten finden in deinem eigenen Leben schon Platz? Welche können noch gefördert werden, und auf welche Weise? Wie sieht es mit deiner für das Schreiben so wichtigen Intuition und dem „Bauchgefühl“ aus? Welches Potenzial zeigt sich dir in der Stille?
Doch nicht nur für die kreative Auseinandersetzung mit uns selbst ist dieses Thema hilfreich, sondern auch, wie bereits angedeutet, für fiktionales Schreiben. Wir können uns mit Hilfe der Rauhnächte aus einem reichen Repertoire an magischen, mystischen und die Fantasie anregenden Gestalten und Themen bedienen. Nehmen wir den Aspekt der Polarität des Lebens: Zeichnen wir unsere Heldin, unseren Helden zu einseitig „gut“, wird die Geschichte schnell langweilig. Die spannendsten Hauptfiguren sind jene, deren Schattenseiten sichtbar werden – ihre Verletzungen und Ängste, ihre schlechten Angewohnheiten oder fragwürdigen Charakterzüge. Gerade für Geschichten mit psychologischer Zeichnung, die eine gewisse Tiefe der Hauptfiguren erfordern, sind diese Aspekte besonders wertvoll.
Als plakative Beispiele dienen zum Beispiel sämtliche aktuellen TV-Kommissare, die alle mehr oder weniger einen leichten Schuss weghaben. Harry Potter wird erst dann zu einem greifbaren Charakter, als wir vom Tod seiner Eltern erfahren und seine damit verbundene Wut und Trauer erleben. Gleiches gilt für Luke Skywalker – es reicht nicht, wenn Prinzessin Leia ihn um Hilfe ruft, er bricht erst Richtung Todesstern auf, als er in sein verwüstetes Heimatdorf kommt, in dem seine Eltern umgebracht wurden. Mehr noch: Die besten Hauptfiguren sind jene, die direkt mit dem Schatten verbunden sind. Luke Skywalker ist Teil der dunklen Seite, fließt in seinen Adern doch das Blut seines Vaters Darth Vader. Eine ähnliche Symbolik greift „Herr der Ringe“ auf, in dem berühmten Klassiker „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ wird sie zum Kernthema.
Auch die „Schatten“, die Gegner, funktionieren in Geschichten dann besonders gut, wenn sie nicht nur – wie zum Beispiel in Groschenromanen – dunkel oder böse sind, sondern wenn sie auch etwas Faszinierendes, Machtvolles oder sogar Anziehendes haben. Die Hexen in den Zeichentrickfilmen von Walt Disney sehen selten wie die Grimm‘schen alten Mütterchen mit Buckel, Hakennase und Warze aus, vielmehr sind es meist attraktive Frauen. Die Bösewichte bei James Bond sind es, die der Geschichte ihren ganz besonderen Reiz geben und damit dem eher gleichförmigen Charakter des James Bond den Rang ablaufen.
Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass natürlich die „Wilde Jagd“, die Dunkelheit und die unheimlichen Aspekte der Rauhnächte ein wunderbares Setting für Krimis und Thriller aller Art abgeben – von Fantasyromanen gar nicht erst zu sprechen. Ein einsames Haus am düsteren Waldrand, in das sich verirrte Wanderer vor dem Unwetter flüchten müssen, ist ein bekannter Ort, um Gänsehaut und Gruseln zu erzeugen. Denn natürlich erleben die Wanderer dort seltsame Dinge, die besser nicht geschehen sollten … auch unter den furchterregenden Masken der Perchtenumzüge und in der Dunkelheit der langen Nächte können elegant die fiesestes Bösewichter und schlimmsten Untaten versteckt werden. Wenn wir uns als Schreibende ganz auf die magische, geheimnisvolle Anderswelt der Rauhnächte einlassen, steht uns ein unerschöpfliches kreatives Potenzial zur Verfügung.
Für das Entwerfen von Plots und Figuren können uns dabei auch Karten helfen. War es früher Brauch, mit Hilfe von Orakeln die Zukunft zu deuten, so lassen sie sich heute wunderbar und auf eine sehr spielerische, leichte Art nutzen, um frische Anregungen bei Schreibblockaden oder bei Sackgassen in der Geschichte zu finden. Es gibt inzwischen eine unüberschaubare Vielfalt an Kartendecks – von Engeln und Naturgeistern über Pflanzen- und Blütenessenzen und psychologisch-therapeutischen Themen bis hin zum klassischen Tarot. Für unser Schreiben lässt es sich besonders gut einsetzen, da es archetypische Bilder enthält, mythologische Grundformen, die eng mit unseren eigenen Lebensthemen – und mit denen unserer Protagonisten – verknüpft sind. Können wir diese Karten mit Hilfe eines Deutungsbuches in verschiedenen Legevarianten für uns also hervorragend selbst nutzen, um zum Beispiel die bereits angesprochene Innenschau, das Zurückblicken und Bilanzieren und auch den Blick auf das Kommende zu vertiefen, so lassen sie sich auch für die Entwicklung überzeugender Figuren und Plots heranziehen. Natürlich ermöglichen gerade die stark archetypisch geprägten und eng mit unseren seelisch-psychischen Themen verbundenen Karten viele verschiedene Deutungen, es gibt dabei nicht „richtig“ oder falsch“. Jede/r muss für sich selbst entscheiden, welche Interpretation die persönlich stimmigste ist.
Eine einfache Vorgehensweise ist es dabei, eine der 22 „Großen Arkana“ de Tarot zu ziehen und sie zu unserer Heldin, unserem Helden zu machen bzw. einer bereits vorhandenen Hauptfigur dadurch an Authentizität und Kraft zu verhelfen. Die 56 „Kleinen Arkana“ dienen zur näheren Bestimmung und Vertiefung. Jede beliebige Kombination ist dabei denkbar und führt zu ganz neuen Ideen. Ein Selbstversuch: Ich nehme ein Tarotset zur Hand und ziehe vier Karten – eine aus den „Großen Arkana“, drei aus den „Kleinen Arkana“. Die erste soll meine Hauptfigur sein, die anderen etwas über ihre Themen oder Qualitäten sagen. Los geht’s: Zunächst ziehe ich die Karte IX, den Eremiten, Symbol für Zurückgezogenheit und innere Einkehr und Erkenntnis, aber auch für die Freude, mit sich allein sein zu können. Die nächste Karte ist die 5 der Münzen, die auf Krisen, Entbehrungen und Unsicherheiten hinweist. Danach kommt der „Ritter der Stäbe“, der für Lebenslust und Begeisterung, aber auch für Ungeduld steht, die zu voreiligen Handlungen und Entschlüssen führen kann. Schließlich landet die 6 der Kelche auf meinem Tisch: Sie bedeutet in etwa, der Vergangenheit sehnsüchtig nachzuhängen. Mein Protagonist könnte also ein Mann mittleren Alters sein, der zurückgezogen lebt und immer mehr merkt, dass er nicht zufrieden ist. Eines Tages ereilt ihn der „Ruf des Abenteuers“: Er findet beim Aufräumen das Bild seiner geliebten Frau wieder, die vor Jahrzehnten verschwunden und nie wieder aufgetaucht ist. Die Sehnsucht nagt in ihm – er bricht auf und stützt sich unüberlegt in die Suche nach ihr. Dabei macht er Erfahrungen, die ihn aus seiner gewohnten, ruhigen und zurückgezogenen Welt vollständig herausreißen …
Wer es lieber etwas „handfester“ mag, kann auf Kartensets zurückgreifen, die konkreter Bezug zu „realeren“ Geschichten in Gegenwart und Alltag haben. Beispielhaft seien zwei ganz besondere Kartenspiele genannt, die das Schreiben von Geschichten anregen und begleiten: Das Spiel „Geschichten-Erfinder – Kartenspielerei für kreative Köpfe“ von Kathrin Bröse ist in der Collection Büchergilde erschienen. Aus den vier Kategorien „Setting“, „Protagonist“, „Plot“ und Special werden jeweils eine oder mehrere Karten gezogen. Auch hier ein Selbstversuch: Ich erhalte „Ein Mann ohne Gedächtnis“, „An einem See“, „Eine Prüfung muss bestanden werden“ und „Nachrichten werden zugesteckt“. Und schon sind meiner Fantasie neue Türen geöffnet: Inwieweit haben die Prüfung und die Nachricht mit dem Verlust des Gedächtnisses zu tun? Wer spielt da noch eine Rolle? Und wo führt das Ganze hin?
Das andere Spiel ist ein Klassiker in Neuauflage: „Es war einmal – das Geschichtenerzähler-Kartenspiel“ von Pegasus mit zauberhaften Illustrationen. Hier finden wir die Kategorien „Charaktere“, „Gegenstände“, „Orte“, „Eigenschaften“ und „Ereignisse“. Mehr braucht es nicht, um an langen Winterabenden in alte Zeiten einzutauchen, in denen sich von Geistern und Dämonen erzählt wurde, gemeinsame Rituale zelebriert wurden und die Menschen wussten, dass unsere Fantasie und Kreativität ganz eng mit unserem alltäglichen Leben verbunden sind …
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