Wie du Wut, Empörung oder Aggression für dein Schreiben nutzen kannst

Ich war kürzlich richtig wütend. Das Hotel, in dem ich mein letztes Seminar abgehalten hatte, hatte mir eine zu hohe Rechnung gestellt und beharrte zunächst trotz schriftlicher Abmachungen auf der offenkundig falschen Position.

In mir fing es an zu brodeln. Ich spürte, wie Empörung in mir Raum nahm und sich die Geschichte immer größer in meinem Kopf aufblies. Früher hätte ich entweder sehr unfreundlich reagiert oder versucht, zu beschwichtigen – vielleicht hätte ich sogar nachgegeben, um des lieben Friedens willen. Nun jedoch wollte da etwas aus mir heraus – trotz allen Wissens um den Wert von zentrierenden Atemübungen oder des Spiegels äußerer Ereignisse. (Akzeptanz heißt schließlich auch, die eigenen Begrenzungen immer wieder anzunehmen. :-))

Ein gutes Hilfsmittel in solchen Situationen ist für mich ein Spaziergang. Meine Partnerin Bettina begleitete mich und bemerkte natürlich, wie es mir ging.
„Wie wäre es, wenn du einen Blogartikel über die konstruktive Kraft negativer Emotionen schreibst?“, fragte sie mich auf einmal.
Augenblicklich wechselten meine Gedanken von dem unerfreulichen Ereignis zu den Möglichkeiten, so einen Text zu schreiben. Während wir beim Weitergehen noch einige Zeit über die Chancen starker Emotionen sprachen, verwandelte sich meine empörte Wut in pure Energie – ich konnte förmlich spüren, wie sich eine unheimlich lebendige, vitale und inspirierende Kraft in mir ausbreitete.  Gleich, nachdem wir zurückgekehrt waren, setze ich mich an den Schreibtisch und fing an zu schreiben.

Et voilà, hier ist der Artikel für dich.

Wir alle erleben ständig einen Wechsel unserer Gefühls- oder Gemütslage. Sind wir gerade noch ruhig und eins mit uns, kann manchmal eine „Kleinigkeit“ ausreichen, dass wir aus unserer Balance herauskippen und die Biochemie in uns beginnt, einen Erregungscocktail nach dem anderen auszuschütten. Wir werden sauer, wütend, aufgebracht, zumindest jedoch unruhig, rastlos und  unkonzentriert.

Wir sind ständig solchen „Triggern“ ausgesetzt, und wenn wir uns in der Welt umschauen, gibt es offenkundig genug Gründe für eine gesunde Empörung. Und auch, wenn klar ist, dass unsere Widerstände immer etwas mit uns selbst zu tun haben, so sind die gegebenen Emotionen erst einmal da. Wie also konstruktiv damit umgehen?

Natürlich sind, neben anderen, die schon erwähnte Akzeptanz, Außenperspektive und Eigenverantwortung wichtige Zutaten, um wieder in die eigene Mitte zurückzukehren. Heute geht es mir aber darum, die negativen Energien, wenn sie schon einmal da sind, zu unseren Verbündeten und zu Quellen unserer Kreativität zu machen.

In dem Begriffspaar „gesunde Empörung“ eben steckt schon ein wichtiges Detail: Ob etwas für uns gesund ist (förderlich, hilfreich, stärkend) oder ungesund (belastend, einengend, blockierend), liegt in weiten Teilen in unseren eigenen Händen. „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen“, sagte schon Aristoteles. Und wir können uns entscheiden, die Segel so zu setzen, dass uns unser innerer Aufruhr unterstützt statt schadet.

Eine meiner Lieblingsautorinnen, die leider vor kurzem verstorbene US-Amerikanerin Debbie Ford, beschäftigte sich vor allem mit ressourcenorientierter Schattenarbeit – also der Frage, wie wir die Krisen und Herausforderungen unseres Lebens und die damit verbundenen Gefühle konstruktiv für uns nutzen können – um uns selbst besser zu erkennen, Altes loszulassen, zu wachsen und vielleicht sogar zu heilen. An einer Stelle schreibt sie, dass unsere negativen Aspekte lediglich übertriebene positive Eigenschaften seien: Geiz sei demnach übertriebene Sparsamkeit, Antriebslosigkeit übertriebenes Ruhebedürfnis, Sturheit übertriebene Konsequenz. Und so sind auch Wut, Empörung oder Aggression lediglich übertriebene positive Eigenschaften.

Sprachgeschichtliche Unterstützung

Dazu ist ein Blick auf die ursprünglichen Bedeutungen dieser Wörter sehr hilfreich und erhellend (der Sprachwissenschaftler in mir ist geweckt! Doch keine Befürchtungen – ich mache es knapp und übersichtlich:)

Das Wort „Aggression“ stammt aus dem Lateinischen und setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Aus „ad“ (heran, hinzu) und „gradi“ (schreiten, gehen): Wenn wir „aggressiv“ sind, bedeutet das zunächst, dass wir uns einer Sache nähern. Losgelöst von seiner gebräuchlichen negativen Zuschreibung, ist die sich nähernde „Aggression“ also grundlegend vorteilhaft – denn wenn wir vor etwas weglaufen, verpassen wir die mögliche Wachstumschance, die darin enthalten ist.

„Empören“  stammt vom mittelhochdeutschen „enbœuren“ (sich erheben), noch ein bisschen weiter weg gehört dazu die indogermanische Wurzel „*bher“ (tragen, hervorbringen, gebären). Dazu passt „Wut“, das in Verbindung mit dem altenglischen „wod“ (Ton, Stimme) steht. „Empörte Wut“ heißt also, sprachwissenschaftlich quasi abgesichert: Seine Stimme erheben. Gerade beim Schreiben der eigenen Biografie sind wir aufgefordert, so deutlich und vernehmbar wie möglich unsere Stimme sicht- und hörbar zu machen. Wir können mit einer bestimmten Portion Empörung zudem oft viel besser unsere eigene Position und Meinung vertreten – wir sind endlich aufgerüttelt und bereit, unseren Standpunkt klar zu vertreten. Zudem gibt es sprachlich ableitbar einen Hinweis darauf, dass wir „gebären“ können, indem wir diese Emotionen in kreative Energie umlenken.

In Wut, Ärger oder Empörung steckt also eine enorm positive Energie für das eigene Schreiben. Ich habe dir ein paar Übungen mitgebracht, die du sofort für dich nutzen kannst:

1. Schreibe einen „Wutbrief“

Wenn wir aufgebracht sind, brauchen wir oft erst einmal ein Ventil, um angestaute Luft abzulassen und wieder zu uns zu kommen. Da es in der Regel großen Schaden nach sich zieht, als Ventil andere Menschen oder Dinge zu nehmen, können wir das Schreiben nutzen, um das herauszulassen, was uns sonst im- oder explodieren lassen würde.

Wichtig bei dieser Übung bist zunächst einmal du. Das heißt: Schreibe alles „aus dir heraus“, was du auf der Seele, im Kopf und im Bauch mit dir herumträgst. Nur für dich selbst, für niemanden sonst. Schreibe einen „Wutbrief“ an jene Person(en), Umstände oder Ereignisse, auf die du (immer noch) wütend bist – darin darf alles stehen, was dir in den Sinn kommt. Das erleichtert und klärt.

Nach diesem „reinigenden Feuer“ bist du viel besser in der Lage, dich fokussiert den Themen zu widmen, die dir wirklich am Herzen liegen. Vielleicht genau das zu schreiben, was schon länger in dir nach Ausdruck gesucht hat?

2. Schreibe „wütende“ oder „laute“ Kapitel

Wenn ich entspannt und fröhlich bin, werde ich kein ordentliches Kapitel meiner Biografie oder meines Romans schreiben können, in dem es um Auseinandersetzung, Streit, Spannung oder „Action“ geht. Unsere Emotionen sind nicht nur der Antriebsstoff zum Schreiben, sondern sie stellen auch die notwendige Würze, Kraft, Tiefe und Lebendigkeit bereit, die unsere Texte brauchen. Was wär wohl aus „Die Leiden des jungen Werthers“ geworden, wenn Goethe zu der Zeit nicht selbst unglückliche Beziehungsmuster erlebt hätte? Was aus den Reden von Martin Luther King, wenn er keine existenzielle Wut und Empörung über die Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung in sich gespürt hätte? Was aus all den unzähligen, erfolgreichen Büchern, die Missstände, Leid, Verlust und Schmerz – und oft auch ihre Transformation – thematisieren?

Viele große Meisterwerke der Weltliteratur sind entstanden, weil ihre Schöpfer voller negativer Emotionen waren. Wenn du also einmal merkst, dass negative Emotionen in dir rumoren, dann nutze diese Energie – setz dich sofort zum Schreiben hin und schreibe alles heraus, was passt!

3. Entdecke dich neu

Es gibt einen weiteren großen Vorteil negativer Emotionen: Wenn du aufgebracht bist, kannst du oft besser an Dinge herankommen, die sonst von deinem inneren Zensor unterdrückt werden. Gerade, wenn du eher ausgleichsliebend, harmoniebedürftig, beschwichtigend oder kontrolliert bist, kann es sehr hilfreich sein, auch einmal Wut, Ärger und Empörung zuzulassen, um deine eigenen Wünsche und Bedürfnisse klar benennen zu können. (Diese Erkenntnisse sind für uns in der Regel nicht zugänglich, solange wir gerade im 7. Himmel schweben oder besondere Rücksicht nehmen wollen.)

„Ich habe einfach keine Lust mehr auf …“ oder „Ich kann … nicht mehr ertragen …“ sind oft hervorragende Ausgangssätze, einen gesünderen oder erfolgreicheren Weg einzuschlagen. Konsequent kannst du dich danach fragen:

„Was will ich wirklich?“

Die Kraft negativer Energien ist auch hierfür ein wunderbarer Antriebsmotor, endlich Dinge zu tun, die lange aufgeschoben worden sind oder endlich geklärt werden müssen. Soe können, richtig eingesetzt,  dazu führen, dass du die Stimme des inneren Perfektionismus endlich ignorierst und dich traust, dich zu zeigen – so, wie du bist, mit deinen Texten, deiner Geschichte.

Ich wünsche dir von Zeit zu Zeit also eine gesunde Empörung, konstruktiv genutzte Wut oder die Motivation innerer Aufwallung – und die Freude, sie in starke Texte und klare Einsichten zu verwandeln!

(c) Foto: Ryan McGuire