Wir alle sind Helden und Heldinnen unseres eigenen Lebens. Auf unserer Lebensreise begegnen uns immer wieder Chancen und Herausforderungen, Siege und Niederlagen, Freunde und Gegner. Wir folgen Sehnsüchten, durchleben Krisen, überwinden Hürden und feiern Erfolge – im besten Fall lernen wir uns selbst dabei auch gut kennen und wachsen mit jeder bestandenen Prüfung ein Stück. Unser Leben besteht aus vielen kleinen Geschichten – immer wieder treten neue Dinge, Ereignisse und Personen in unser Leben, bestimmte Erfahrungen scheinen wir aber auch ständig aufs Neue zu wiederholen. Kreisläufe und Muster werden sichtbar und verschwinden wieder im Nebel der alltäglichen Aufgaben. Und wenn wir genau hinschauen und -fühlen, ergibt sich in der biografischen Betrachtung so etwas wie eine große Gesamtgeschichte, die natürlich subjektiv und veränderbar bleiben muss, solange wir leben.

Und doch scheinen wir mit einem gewissen Verständnis von allgemein gültigen Strukturen, Abläufen und Funktionen geboren worden zu sein. C.G. Jung hat diese Anteile in uns „Archetypen“ genannt – wiedererkennbare und intuitiv verständliche Aspekte, die jedem/jeder von uns innezuwohnen scheinen. Alle großen Mythen aus verschiedenen Kulturen und Epochen erzählen überdies unabhängig voneinander immer wieder dieselbe Geschichte: Die Heldenreise, die als mythologischer Begriff maskulin verwendet wird, selbstverständlich aber alle Heldinnen einschließt und darüber hinaus auf etwas viel Größeres hindeutet, nämlich auf die Balance zwischen weiblichen und männlichen Anteilen in uns allen. (Im weiteren Verlauf dieses Textes wähle ich der besseren Lesbarkeit halber immer abwechselnd eine von beiden Varianten.) Joseph Campbell hat in seinem 1949 erschienenen Klassiker „Der Heros in tausend Gestalten“ gezeigt, dass diese „Mutter aller Geschichten“ nicht nur überall und zu allen Zeiten identisch war/ist, sondern dass wir sie quasi mit der Geburt in uns tragen – vielleicht gepeist aus dem, was Jung das „kollektive Unbewusste“ nannte.

Es ist geradezu faszinierend, wie eng unser eigenes „anfassbares“, erfahrbares Leben mit den Strukturen von Geschichten und den Funktionen der Archetypen verknüpft ist – und wie viel wir über uns und das Leben verstehen können, wenn wir die Struktur, die Abläufe und Botschaften von (mythologischen) Geschichten kennen. Wer beginnen, uns selbst zu sehen und zu verstehen und gehen mit den Heldinnen und Helden auf die spannendste Entdeckungsreise, die es gibt – nämlich jene zu uns selbst.

Der Begriff „Heldenreise“ ist übrigens auch aus einem anderen Grund etwas irreführend, denn eigentlich handelt es sich eher um eine „Held-in-Ausbildung-Reise“. Alle uns überlieferten Mythen und alten Geschichten zeigen es uns: Bevor die Helden und Heldinnen die höchsten Gipfel sonnenbeschienenen Erfolgs erklimmen, müssen sie zunächst in die Unterwelt absteigen, an den Ort der größten Angst, denn dort, am tiefsten und dunkelsten Punkt, liegt das goldene Vlies, das Elixier, das Ziel ihrer Sehnsucht und Heilung, der Grund und die Antriebskraft, sich überhaupt auf diese Reise zu begeben. Auch wir brechen in unserem Leben voller Tatendrang auf, aber alles muss schal und oberflächlich bleiben, bis wir hinabsteigen in die Tiefe des Lebens, bis wir unsere „Nachtfahrt der Seele“ antreten, um dort nicht nur den größtmöglichen Schmerz, sondern auch die größte Ekstase in uns zu finden. Es ist beeindruckend, welch riesiges Potenzial sich genau an dieser Stelle verbirgt, deren Kontakt wir in der Regel sorgsam vermeiden – und wie durch die vollständige Hingabe an unsere Kernwunde unser Licht freigesetzt wird. In der Begegnung, dem Annehmen und Durchleben unseres dunkelsten Schattens eröffnet sich uns der Weg zur Heilung – wir werden dort Heldin und Held.

 

Der Weg der Heldinnen und Helden

Fast alle Märchen, Mythen und Geschichten haben eine im Kern identische Struktur – die sich im übrigen auf alle unsere eigenen „Heldenreisen“ leicht übertragen lässt. Wir lernen die Hauptfigur in ihrer gewohnten Umgebung kennen – doch schon bald erreicht sie „der Ruf des Abenteuers“: Eine Aufgabe, eine Warnung, ein Hinweis. In diesem ersten Schritt verweigert sich der Held jedoch noch, aber wenig später muss er ins Unbekannte aufbrechen – entweder, weil die Sehnsucht zu stark geworden ist oder weil das Schicksal es nicht anders zulässt. Er bricht also auf und lässt das Alte zurück, es ist ein „point of no return“, den er überschreitet.

Schon die ersten Schritte in der unbekannten und bedrohlich wirkenden Unterwelt unserer individuellen Grundthemen zeigt, worum es geht: Wir – die angehenden Heldinnen – treffen auf allerlei Herausforderungen, Freunde und Verbündete, aber auch auf Gegner und Hindernisse – wir lernen also in der Regel ziemlich schnell die archetypischen Anteile unserer Seele kennen, all die Schwellenhüter, Gestaltwandler, Mentoren und Trickster unseres Lebens, die es zu überwinden oder mit denen es zu kooperieren gilt.

In der Theorie von Geschichten haben diese Archetypen immer eine dramaturgische und eine psychologische Funktion: Ein Schwellenhüter zum Beispiel hält die Heldinnen vom einfachen Geradeausmarschieren ab. Psychologisch gesehen überprüfen diese (inneren oder äußeren) Archetypen die Protagonisten, ob sie wirklich vorankommen wollen. Kapitulieren die Helden an dieser Stelle, ist die Geschichte aus – oder anders ausgedrückt: Sie gehen unverändert auf dem gleichen Niveau wie vorher weiter. Übertragen heißt das: Wir bekommen künftig die gleichen Prüfungen wieder, wir haben die gleichen Probleme am Arbeitsplatz und in der Beziehung.

Helden werden erst dann Helden, wenn sie aktiv ihr Schicksal in die Hand nehmen und selbst zur Lösung der Angelegenheit beitragen. Nun passiert etwas Spannendes: Indem die Heldin sich dem Schwellenhüter stellt und ihn mutig und entschlossen überwindet, geht sie gewachsen weiter, fällt also nicht auf das Ausgangsniveau zurück. So erst wird sie in der Lage sein, der nächsten Herausforderung zu begegnen und weiter zu wachsen – mit dem Ziel, sich irgendwann der letzten großen Prüfung mit dem (eigenen) größten Schatten stellen zu können. Jene Momente also in unserem Leben, die herausfordernd und oft schmerzhaft für uns sind und die wir lieber vermeiden oder wegdrängen wollen, sind in Wahrheit Aufforderungen und Chancen zu Wachstum – wenn wir sie denn annehmen und aktiv überwinden.

 

Der Schatten und das Licht

Der Schatten, der böse Gegenspieler, ist für die Geschichte – und das Leben – die elementare, entscheidende Figur: Ohne den Schatten gäbe es die Heldinnen und Helden nicht. Der Schatten zieht sie durch die Geschichte, er ermöglicht überhaupt erst, dass Bewegung und Entwicklung entstehen. Der Held wächst nicht, weil er auf der Wiese vor dem Burggraben in der Sonne liegt, die Heldin kann nur dann in ihre größte Kraft kommen, wenn sie den Schatten kennengelernt und überwunden hat.

Die Schatten der Geschichten haben dabei direkt etwas mit dem Helden und der Heldin zu tun – sie verzahnen sich ineinander, sie haben eine quasi magische und vorherbestimmte Verbindung. Der Schatten ist also keine vom Licht losgelöste Einheit, sondern integraler Bestandteil desselben. Die modernen Mythen – wie zum Beispiel Krieg der Sterne, Harry Potter oder der Herr der Ringe – zeigen uns genau dies: Darth Vader ist in Wirklichkeit der Vater von Luke Skywalker, Bodo Beutlin ist durch den Ring mit Sauron verbunden, zwischen Harry Potter und Lord Voldemort besteht ebenfalls eine ganz besondere Beziehung. In der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist diese Besonderheit Kernthema der Geschichte: Der Schatten ist Teil von uns, und nur in der Erkenntnis und Akzeptanz dessen liegt unsere Heilung – und unsere Heldwerdung.

Die Heldin muss am tiefsten Punkt der Geschichte, in der Begegnung mit dem Schatten, alles loslassen, sich vollständig hingeben – und einen symbolischen Tod erleiden. Das Alte muss sterben, damit das Neue entstehen kann. Überall in der Natur erleben wir dies: Jede Hülle eines Samens in der Erde muss zerbrechen, damit die Pflanze dem Licht entgegen wachsen kann. Die Raupe im Kokon löst sich komplett in einer gallertartigen Masse auf, bevor daraus ein Schmetterling entsteht. Phönix kann sich in seiner ganzen Pracht erst aus der Asche des Alten erheben. Wenn wir in unserem Leben unserem größten Schmerz, unserer schlimmsten Niederlage begegnen, fühlt sich dies auch oft wie ein Tod an. In diesem Moment aber können wir eine tiefgreifende, uns komplett verändernde Wiedergeburt erleben – die Auferstehung, wie sie von Jesus erzählt wird und ohne die die Kreuzigung, die erste Hälfte der Geschichte, keinen Sinn ergeben würde. Erst durch die „Himmelfahrt“, die symbolische Wiedergeburt, ergibt sich der Sinn der Reise. Wenn die Nacht unserer Seele am dunkelsten ist, beginnt das Licht des neuen Morgens zu scheinen.

Nach bestandener Prüfung kehren wir nun endlich als „vollständige“ Heldinnen und Helden in unsere bekannte Umgebung zurück, wir tauchen wieder aus der Unterwelt auf, verändert, gereift, geheilt – und oft über die alten Strukturen hinausgewachsen. Mancher Held entscheidet sich daher, nicht in die gewohnte Ordnung zurückzukehren, andere Heldinnen bringen mit ihrem neuen So-Sein das Licht und die Kraft der Entwicklung, des Wachstums und der Erkenntnis zu jenen, die dies erkennen und verstehen können.

 

Übungen

Nimm dir einen Augenblick Zeit für dich und frage dich:

Wann und wie hast du in deinem Leben die „Rufe des Abenteuers“ bewusst oder unbewusst ignoriert oder abgelehnt – jene kleinen Hinweise, dass irgendetwas schief läuft oder dir nicht gut tut? Welche Gründe hattest du dafür?

Wie sahen deine bisherigen „Fallhöhen“ aus – welche Situationen oder Ereignisse sind in dein Leben getreten, die dich aus deiner gewohnten Bahn herausgeworfen haben? Und was hast du danach Neues entdeckt?

Welche Schwellenhüter sind dir in deinem Leben schon begegnet? Wie hast du auf sie reagiert? Schreibe so viele Situationen wie möglich auf, die dir spontan einfallen. Kannst du Muster erkennen – entweder in den Herausforderungen selbst oder in deinen Reaktionen darauf?

Jeder Held, jede Heldin entwickelt ich im Verlauf e der Geschichte – es findet ein „Von … zum“ statt. Das bekannteste „Von … zum“ ist wohl „Vom Tellerwäscher zum Millionär“. Von wo nach wo hast du dich bereits entwickelt? (Würdige das Erreichte.) Von wo nach wo möchtest du dich noch weiter entwickeln?

Welche „Auferstehungen“ hast du in deinem Leben schon erlebt – kleine oder große? Über welche Situationen oder Ereignisse denkst du heute: „Das war damals total schmerzhaft – aber wenn mir das nicht passiert wäre, hätte ich später nicht …“?

Hier kannst du deine eigene Heldenreise vertiefen:
“Die Heldenreise für dein Schreiben”