Wie du emotional herausfordernde Momente beim Schreiben für Wachstum und Heilung nutzt

Wenn wir über unser Leben schreiben, berühren wir unweigerlich auch jene Punkte, die schmerzhaft waren und die auch während des erneuten Durchlebens – wenn wir uns ihnen im Erinnerungsprozess zuwenden – noch einmal entsprechende Gefühle hervorrufen können. Wir alle haben, oft sehr früh in unserem Leben, verschiedene Formen von Zurückweisung, mangelnder Zuwendung, fehlender Liebe oder Einsamkeit erfahren. Achtsames, bewusstes Schreiben ermöglicht uns, diese Verletzungen aufzufangen, konstruktiv mit ihnen umzugehen und sie zu integrieren, damit sie heilen können. Und es hilft uns schließlich zu erkennen, dass ihnen, so schwer sie manchmal auch sein mögen, immer ein ganz besonderes Geschenk innewohnt. Es kommt auf unseren Blickwinkel und auf unsere Bereitschaft und Hingabe an, ob wir es entgegennehmen und in einen kostbaren Lebensschatz verwandeln.

„Schreiben ist dein bester Freund, an dessen Schulter du dich immer anlehnen kannst und der immer für dich da ist“, hat Julia Cameron, bekannt durch ihr Buch „Der Weg des Künstlers“,  einmal sinngemäß gesagt. Dies bezieht sich vor allem auf jene Momente, in denen wir uns bedrückt, ängstlich, traurig oder in einem anderen emotional herausfordernden Zustand befinden – wir können dann unsere Gefühle einfach auf das Papier fließen lassen, das sie geduldig aufnimmt und uns Erleichterung, Erkenntnis und Geborgenheit ermöglicht. Auf diese Weise zu schreiben bedeutet, sich in einem geschützten und sicheren Rahmen auf eine heilsame Entdeckungsreise zu sich selbst zu begeben. Immer dann, wenn wir mit uns selbst oder der Welt nicht weiterkommen, in jenen Phasen, in denen wir hadern, uns verloren fühlen oder aus schwierigen Gefühlen wie Wut oder Ohnmacht einfach keinen Ausweg zu finden scheinen, kann es für uns Trost, Halt und Zuversicht bereithalten.

Darüber hinaus ermöglicht es uns, uns selbst besser kennenzulernen, Zusammenhänge zu entdecken, Geschehenes noch einmal ganz neu zu bewerten und auf diese Weise ein Stück weit(er) zu wachsen, loszulassen und zu heilen. Auf diese Weise zu schreiben bedeutet, eine Entwicklung in Gang zu setzen oder zu stärken, die eine Befreiung von alten Mustern mit sich bringt und ein Leben nach deinen dir wichtigen Werten und Zielen begünstig.

Tränen zeigen sich, weil in dir eine sehr wichtige Tür geöffnet wurde, die lange verschlossen war.

Das heißt nicht, dass dieser Weg einfach ist. Manchmal berühren uns das Erlebte und Vergangene so stark, dass Schmerz ein natürlicher Begleiter ist. Jede Träne, die sich beim Schreiben und im Prozess des Erinnerns zeigt, ist jedoch bereits ein Stück Heilung in sich. Es sind ganz alte, salzige Tränen, die vom tiefsten Grund unserer Seele und unseres Herzens emporsteigen und einfach „geweint“ werden wollen. Die gute Nachricht ist, dass sie lösen und erleichtern, wenn sie endlich einen Weg nach oben zu dir in dein Bewusstsein finden. Es gilt, sie mutig zuzulassen – denn erst, wenn wir etwas erkennen und annehmen, kann es sich verändern. Denn eins ist klar: Solange diese Empfindungen nicht „sichtbar“ sind, heißt es nicht, dass sie nicht da sind. Ganz im Gegenteil: Sie wirken tief in uns und richten dort ihr Unheil an – weil sie, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, unser Leben in Form von Glaubenssätzen, Muster und inneren Grenzen in allen Lebensbereichen bestimmen.

 

Es geht ums „Ganz sein“

Manchmal entsteht die Befürchtung, dass uns alter Schmerz überrollen könnte, wenn wir ihm uns beim Schreiben noch einmal öffnen – und deswegen verschließen wir uns weiter oder wieder davor. Wir erlauben uns nicht, jene Gefühle zuzulassen, die sich zeigen möchten. Doch genau hier liegt eine große Chance: Statt uns abzuwenden und sie zurückzuweisen, haben wir schreibend die Möglichkeit, uns ihnen zuzuwenden und sie einzuladen.

Wenn wir etwas „nicht haben wollen“, also bestimmte Anteile in uns wegdrücken – was ein normaler Reflex ist, weil wir von unserer Natur her Schmerz vermeiden wollen –, spalten wir sie ab. Zu einem ausgewogenen Leben gehören sie aber genauso dazu wie die angenehmen und willkommenen. Die amerikanische Autorin Debbie Ford, die wegen ihrer heilsamen Schattenarbeit bekannt geworden ist, zieht einen treffenden Vergleich heran: Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir wie große Schlösser mit unzähligen Zimmern. In jedem befindet sich eine Eigenschaft von uns. Im Laufe unseres Lebens schauen wir nach und nach in diese Räume hinein, und wenn wir in ihnen jene Wesensmerkmale entdecken, die wir nicht mögen – oder die aufgrund unserer Erziehung und der kulturellen Prägungen als nicht wünschenswert klassifiziert werden –, schließen wir diese Zimmer ab und werfen den Schlüssel im hohen Bogen in den Burggraben. Irgendwann sitzen wir dann in winzigen, engen Zwei-Zimmer-Wohnungen und wundern uns, dass wir uns begrenzt und unvollständig fühlen. Im Leben und im Schreibprozess gilt es, diese Räume wieder zu öffnen und alles behutsam anzunehmen, was wir dort finden, um unser ganzes menschliches Potenzial zu erfahren. Übrigens: Das Wort „heil“ ist in seinem Ursprung mit dem Englischen „whole“, also „ganz, vollständig“, verwandt …

 

Die Geschichte und die Gedanken loslassen

Hilfreich ist es also, uns von unseren auftretenden Gefühlen nicht zu entfernen, sondern uns ihnen vielmehr  zu nähern und unsere Aufmerksamkeit achtsam auf sie zu lenken und zu fühlen, was sich in genau diesem Moment zeigt, anstatt unseren Fokus immer und immer wieder auf die damit verbundenen Geschichten – und damit weg von uns selbst – zu lenken. Wir wiederholen gedanklich immer wieder jene Dinge, die uns zugestoßen sind, wir hadern und verurteilen die Umstände, andere oder uns selbst und drehen uns so in einem nicht enden wollenden negativen Kreislauf. Können wir es jedoch zulassen, unabhängig von den Auslösern zu fühlen, was gerade in uns gefühlt werden möchte, dringen wir zur Wurzel unseres Schmerzes und damit zur Lösung vor.

Es ist Gleichzeitig ein Abstand gewinnen und ein Näherrücken: Indem du eine beobachtende Position einnimmst, gewinnst du Distanz zu deinen Gedanken und widmest dich umso mehr deinen Gefühlen. Ich mag das Bild, in sich selbst einzutauchen: Weg von der bewegten und manchmal stürmischen Oberfläche hinunter in deine eigene, stille Tiefe, um dort ungestört das zu betrachten, was auf dem Boden deines Seins zu finden ist. Du kannst es dir auch so vorstellen: Die Geschichte, die du dir erzählst, löst deine Gefühle aus. An ihnen kannst du dich „hinabhangeln“ und dort ihren Ursprung entdecken – woher sie stammen und welche „Botschaft“ sie für dich bereithalten. Das Spannende dabei ist: Indem du zu den „äußeren“ Dingen Abstand gewinnst und dich dir selbst zuwendest, entsteht bereits eine spürbare Veränderung.

Wenn wir das, was sich in uns spürbar bewegt, also weder unterdrücken noch versuchen, es zu bekämpfen, werden wir eins mit uns selbst – und können unsere Ganzheit und unser „heil sein“ erleben. Vor allem, wenn wir darüber schreiben, eröffnen sich uns ganz neue Ansichten. Mit anderen Worten: Wir können unsere Gefühle auf diese Weise der Heilung zu führen. Wir kategorisieren sie nicht nach „gut“ oder „schlecht“, nach „angenehm“ oder „unangenehm“, sondern als unsere integralen Bestandteile. So „er-lösen“ wir sie.

 

Tipps

Jeder Mensch ist anders, und so ist auch jeder Prozess anders. Ich habe dir einige Tipps zusammengestellt, die sich in solchen Situationen als besonders hilfreich erwiesen haben:

 

Bei dir ankommen

Bevor du irgendetwas tust (oder schreibst): Werde still, komme zu dir und atme mehrmals tief ein und aus. Folge dann deinem ganz natürlichen Atemrhythmus. Das bewusste Atmen ist immer, sofort und überall einsetzbar und verschafft dir augenblicklich eine spürbare Verbesserung innerer aufgewühlter Zustände. Indem du dich bewusst auf das Ein- du Ausströmen der Luft konzentrierst, etwa an deinen Nasenflügeln oder indem du den Weg der Luft in deine Lungen und aus ihnen heraus verfolgst, gewinnst du zusätzlichen Fokus und Abstand zu deinen Gedanken.

 

Von der Seele schreiben

Zunächst kann es manchmal hilfreich sein,  erst einmal ein inneres Ventil zu öffnen, um weitere Anspannung loszulassen. Das Schreiben hilft dir, es auf konstruktive und förderliche Weise zu tun. Schaffe dir einen sicheren Raum. Wie oben schon beschreiben, ist das Papier dein bester Freund, du darfst ihm alle deine Emotionen anvertrauen. Dazu gehört auch, vielleicht einmal wütend zu sein und alles „rauszulassen“, was raus möchte und lange nicht gesagt worden ist. Sieh es als „Mentalhygiene“ an – es darf erst einmal Platz geschaffen und aufgeräumt werden, um dich dann in Ruhe und befreit deinen tiefer liegenden Gefühlen zuzuwenden. Wichtig ist, alles anzunehmen und zuzulassen, ohne es zu bewerten. Mit jedem Wort wird dir leichter werden.

 

Vertrauen

Grundlage dabei ist, zu vertrauen. Vertrauen, dass du sicher bist in deinem Raum, den du dir gerade geschaffen hast. Vertrauen, dass du inzwischen gewachsen bist und wichtige Dinge dazugelernt hast, so dass du besser damit umgehen kannst. Und vielleicht sogar vertrauen, dass du geführt und beschützt bist und dich immer in die Hände einer größeren Macht geben kannst, die dich auffängt und trägt (manche nennen sie Gott, andere die Quelle, das Universum – sie ist übrigens auch der Ort, an dem deine unbegrenzte, wunderbare Kreativität zu finden ist).

Mache dir bewusst: Wenn du im Vertrauen bist, ist nichts „zu viel“. Vielmehr kannst du immer besser deinen Blickwinkel verändern: Alles, was kommt, ist richtig und hilfreich, weil es kommt. Weil es gesehen werden möchte. Weil es angenommen und umarmt werden möchte. Noch einmal zur Sicherheit: Zunächst ist damit nicht das Geschehene gemeint, sondern deine Gefühle, die sich daraufhin jetzt gerade noch einmal zeigen.

 

Neugierig forschen

Wenn du auf diese Weise fokussiert bist und dich sicher und geschützt fühlst, kannst du dich den Themen zuwenden, die in deinen Gefühlen verborgen liegen. Gehe dabei wie eine Forscherin oder ein Forscher deines eigenen Lebens vor: Schaue neugierig und mit dem Wunsch zu verstehen auf das, was sich zeigt. Nimm dabei, so gut es geht, alle Bewertungen heraus. Beobachte deine Gefühle, als ob du sie zum ersten Mal erleben würdest. Du kannst diese Haltung mit entsprechenden Sätzen und Gedanken unterstützen: „Aha, dort nehme ich gerade eine Beklemmung wahr. Dieser Gedanke verursacht gerade einen Kloß im Bauch. Ah, und dort entsteht ein warmes Gefühl.“

Oft sind nicht die Trauer, die Wut oder das Gefühl von Ohnmacht das Problem, sondern unser Widerstand dagegen, unsere inneren Stimmen, die Be- und Verurteilen. Wenn wir uns erlauben, einfach traurig sein zu dürfen, ohne uns gegen die Trauer zu wehren, entsteht jene Öffnung, durch die Heilung geschehen kann.

 

Auf den Moment fokussieren

Sollte sich doch einmal etwas wie „zu viel“ anfühlen, oder sollten bestimmte Gefühle und die begrenzenden, wertenden Gedanken deines inneren Zensors oder deiner inneren Kritikerin immer wieder hartnäckig „dazwischen grätschen“, richte deine Aufmerksamkeit gezielt und bewusst auf deine äußeren fünf Sinne: Was nimmst du in diesem Moment wahr? Das kann ein Luftzug auf deinem Arm sein, die Sonne auf deinem Gesicht, die Geräusche um dich herum oder ein Geruch, den du gerade wahrnimmst. Sollte deine innere Stimme versuchen, dich davon abzubringen, führe deine Aufmerksamkeit einfach wieder bewusst auf das zurück, was du über deine Sinne erlebst. Wenn du dies konsequent schaffst, sollte dein innerer Tumult nach und nach schwächer werden und vielleicht sogar ganz verschwinden und einem Gefühl innerer, friedvoller Ruhe weichen.

 

Fragen an dich

Um dich selbst und bestimmte Verhaltensweisen und Muster in deinem Leben besser zu verstehen, ist es hilfreich zu schauen, welche Erlebnisse an ihrem Grund zu finden sind – sie dir bewusst zu machen und so heilsame Prozesse zu initiieren, die dich Schritt für Schritt dir selbst und deinem inneren Friede, deiner Selbstliebe und einem erfüllten Leben näherzubringen. Du kannst dich fragen:

  • Welche Themen und Gefühle verbergen sich in den Geschichten, die du dir selbst über dich und dein Leben immer wieder erzählst?
  • Kannst du einen roten Faden erkennen, der die äußeren Erlebnisse miteinander in der Tiefe verbindet?
  • Was kannst du dir unabhängig vom Außen (zunächst) selbst schenken – Aufmerksamkeit, Präsenz, Zuwendung, Liebe -, um deine elementaren Wünsche und Bedürfnisse zu befrieden?
  • Was brauchst du gerade? Was kannst du jetzt in diesem Moment tun, um dich mit dir wohlzufühlen und aus diesem gestärkten Raum heraus den nächsten Abschnitt deines Lebensweges zu gestalten?

Schreibe deine Antworten auf – und achte dabei vor allem darauf, jede Bewertung oder (Selbst-)Verurteilung wahrzunehmen und wieder loszulassen. Alles, was sich im Schreibprozess zeigt, ist richtig und wertvoll, weil es sich zeigt. Wenn du magst, kannst du bestimmte Einsichten oder Gedanken, die am meisten Resonanz in dir auslösen, weiter schreibend vertiefen.

 

Sei achtsam mit dir selbst

Das Schreiben hilft dir dabei, Altes, dich Begrenzendes anzuschauen, es zu verstehen und Kraft zu finden, deinen eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Natürlich geht nicht alles von jetzt auf gleich – manche Prozesse sind anhaltend und brauchen ihre Zeit. Ich mag in diesem Zusammenhang das Bild einer Spirale: Wir kommen im Leben von Zeit zu Zeit in Bereiche zurück, die wir schon kennen – aber immer auf einer anderen, vielleicht sogar höheren Ebene. Mit jedem weiteren „Besuch“ können wir neue Dinge entdecken, anders auf bestimmte Ereignisse schauen und wertvolle Einsichten dazugewinnen.

Schreiben kann dich weit voranbringen – zu dir selbst, zu deinem innersten Erleben, zu Stärkung, Trost und Heilung. Nimm dabei immer achtsam deine Grenzen wahr und setze vorsichtig Schritt für Schritt auf dem Weg in dein Inneres. Solltest du spüren, dass du alleine nicht weiterkommst, suche auf jeden Fall Hilfe für deinen Weg. Manchmal kann es schon reichen, einen Menschen deines Vertrauens dabei an deiner Seite zu haben, der dich auffängt und dich begleitet. Und natürlich stehen dir vielfältige professionelle Möglichkeiten für Unterstützung zur Verfügung.

Wenn du Fragen hast, die auf deinem Schreibweg auftauchen, oder wenn du etwas aus deinem (Schreib-)Prozess teilen möchtest, bin ich natürlich auch jederzeit sehr gerne für dich da – schreib mir einfach eine Nachricht.

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