Juliah ist neun Jahre alt, als sie zum ersten Mal für ihre Familie das Reisgericht „Nasi Goreng“ kocht. Sie lebt mit ihren acht Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Dorf in Malaysia. Ihre Eltern müssen beide auf der Kautschukplantage und in den Reisfeldern arbeiten, um die Familie ernähren zu können. Oft fährt Juliah mit dem Fahrrad die fünf Kilometer zum Reisfeld, um ihren Eltern das Essen zu bringen. Obwohl das Leben hart und anstrengend ist, herrschen in der Familie ein großer Zusammenhalt und ein starkes Miteinander – alle unterstützen sich gegenseitig, so gut sie können. Einmal im Monat, wenn die Mutter ihren kargen Lohn für die Arbeit auf der Kautschukplantage bekommen hat, bereitet sie den Kindern Kekse und „Meehun Hailam“, chinesische gebratene Reisnudeln, zu – ein riesiger Genuss für alle. Der würzige Geruch von gebratenen Chilis, Zwiebeln, Knoblauch und Zitronengras, Kurkuma und Ingwer wird Juliah ihr Leben lang begleiten.
So beginnt Juliahs Geschichte. Das Zubereiten von Essen wird für sie zu einer prägenden Erfahrung – 29 Jahre später eröffnet sie ihr erstes eigenes Restaurant in Heidelberg. Sie hat es geschafft – und sie ist deshalb so erfolgreich, weil ihre Gäste spüren, dass das Essen bei ihr nicht bloß der Nahrungsaufnahme oder dem Geldverdienen dient, sondern dass es tief im Herzen der Restaurantchefin verwurzelt ist.
Juliahs Geschichte steht heute auf Ihrer Website, und sie zeigt alle Motive einer erfolgreichen, berührenden Erzählung, die geteilt und weitererzählt wird. Damit auch du kraftvolle Geschichten schreiben kannst – sei es für deine Website, deine Unternehmenspräsentation oder deinen Blog, für Kurzgeschichten oder Romane –, zeige ich dir hier die fünf wichtigsten Elemente:
1. Finde ein Leitmotiv.
Das Zubereiten und der Genuss von Essen durchziehen Juliahs Leben wie ein roter Faden – ebenso wie die damit verbundenen Erinnerungen an ihre Familie und ihre Heimat Malaysia. Am Anfang, im Verlauf und am Ende ihrer Geschichte spielen diese Elemente eine wichtige Rolle.
Hilfreiche Fragen:
- Was ist der rote Faden deiner Geschichte?
- Welche „Zutat“ deines Lebens wirkt am stärksten?
- Was verbindet Anfang und Ende deiner Geschichte miteinander?
- Was müssen deine Lesenden oder Zuhörer über das „Früher einmal“ erfahren, um das „Heute“ zu verstehen?
- Was genau sind wiederkehrende Muster, Themen oder Motive deines Lebens?
- Was macht dich in deinem Wesen aus?
- Welches sind deine Stärken und Schwächen, die dich im Leben begleiten?
- Welche Erfahrungen haben dich geprägt?
- Welchen Sehnsüchten folgst du?
- Welche Werte sind untrennbar mit dir verbunden?
2. Setze alle Sinne ein und schreibe konkret.
In Juliahs Geschichte lernen wir als Erstes die wichtigste Farbe kennen, die sie mit ihrer Heimat verbindet: Das saftig-satte Grün der üppigen Vegetation Malaysias, der großen Blätter der Bananenbäume und Kokospalmen, die in der hellen Sonne nach einem tropischen Regenschauer noch einmal stärker leuchten. Wir hören auch die Geräusche aus dem nahegelegenen Wald, das Schreien der Affen und das Hämmern der Vögel, die die Rinden der Bäume bearbeiten. Und wir riechen und schmecken natürlich das Essen, das quasi vor unseren Augen zubereitet wird – den Duft des Ingwers oder des Kurkumas, die Schärfe des Chilli oder die milde Süße der Reismilch. Wir sind sofort „mittendrin“ in der Geschichte. Je klarer wir die Szene „sehen“, desto leichter können wir uns mit dem Erzählten emotional verbinden.
- Schreibe möglichst konkret über die sinnlichen Eindrücke deiner Geschichte.
- Betone vor allem Gerüche, Geschmack und Geräusche – den Sehsinn, das Visuelle, setzen wir sowieso häufig ein.
- Nennee konkrete Namen (sage also „Kurkuma und Ingwer“ statt „Gewürze“).
- Wertende Adjektive sind erlaubt, setze sie aber sparsam ein. Beschreibe zum Beispiel lieber mit konkreten Bildern, was „arm“ genau bedeutet.
- Lass dir Zeit beim Herausarbeiten der Sinnesbeschreibungen – und sei präzise. Besonders hier gilt der Satz von Mark Twain: „Der Unterschied zwischen einem treffenden und einem beinahe treffenden Ausdruck ist der gleiche wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.“
3. Beschreibe Herausforderungen.
Wir lernen Julia in einer Phase ihres Lebens kennen, die schwierig, anstrengend und aussichtslos erscheint.
Fange nicht mit deinen Erfolgen an, sondern schildere, welche Herausforderungen du überstehen, welche Prüfungen du meistern und welche Hürden du nehmen musstest – und wie diese dich zu dem Menschen gemacht haben, der du heute geworden bist. Deine Niederlagen und schwachen Phasen sind das Kernelement deines späteren Erfolges!
Heldengeschichten – wie deine und meine persönliche Heldenreise oder jene unserer Hauptfiguren – beschreiben immer eine Entwicklung der Heldin oder des Helden „von … zum“ – wir erleben, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, welche Sehnsüchte sie antreiben, wie sie aufbrechen (müssen) und auf ihrem Weg Prüfungen bestehen, wie sie dadurch immer mehr lernen und schließlich, nach einer letzten großen Prüfung, gewachsen und gereift in ihre gewohnte Welt zurückkehren. Das Erreichen des Ziels ist dabei die Antwort auf die ursprüngliche Herausforderung – jene Schatten, die wir auf unserer Reise bewältigen und integrieren, bilden zugleich das Kernstück unseres Potenzials, in das wir eintreten.
Hilfreiche Fragen:
- Wie war deine Ausgangslage?
- Vor welchen Problemen hast du einmal gestanden?
- Wie hast du dich dabei gefühlt?
- Auf welchen bestandenen Prüfungen und durchlebten Krisen basiert dein heutiger Erfolg?
- Wie hast du es geschafft, deine eigenen Schattenanteile in Stärke zu verwandeln?
Die Antworten sind sowohl für persönliche Texte hilfreich (Präsentation, Eigendarstellung, Reden) als auch als Grundlage für deine Hauptfiguren: Wir können nur über das gut schreiben, was wir kennen und was uns selbst emotional berührt und bewegt.
4. Sprich Emotionen an.
Nicht „Plot Points“, Struktur oder Charaktere sind für eine hervorragende Geschichte entscheidend, sondern Emotionen. Sie bilden die Basis der Identifikation mit der Hauptfigur. Wir leiden, lachen und hoffen mit ihr im Kino, weil wir uns mit ihr identifizieren. Sie repräsentiert einen Teil von uns, wir kennen die Emotionen. Das gilt auch, wenn wir die „echten“ Geschichten von Menschen hören oder lesen, die wir kennen und die in der Bewältigung Ihrer Krisen und Herausforderungen vielleicht sogar ein Vorbild für uns sein können.
Die wenigsten von uns haben als Kind in ärmlichen Verhältnissen in Malaysia gelebt, aber wir alle kennen es, in hoffnungslosen, schweren Situationen zu stecken – und trotzdem immer wieder zu versuchen, das Beste draus zu machen. Uns allen sind Hoffen, Bangen, Probieren und Scheitern, Hinfallen und Aufstehen vertraut. Und wir alle wissen, wie gut es tut, den Zusammenhalt, die Geborgenheit und die Liebe einer Familie oder uns nahestehender Menschen zu erfahren.
Folgende Fragen können dir helfen, die deiner Geschichte zugrunde liegenden Emotionen noch genauer benennen und beim Schreiben einsetzen zu können:
- Suche in deinem Alltag nach Spuren: Was berührt dich zutiefst?
- Was waren/sind die prägenden emotionalen Erfahrungen deines Lebens?
- Welche Filme haben den stärksten Eindruck in dir hinterlassen? Warum?
- Welche Geschichten, Filme oder Bilder leitest du in den sozialen Netzwerken weiter?
- Wann und warum hast du das letzte Mal weinen müssen oder dich so richtig freuen können?
- Was musstest du schon dafür in Kauf nehmen, dass du der „Stimme deines Herzens“ gefolgt bist? Wie hast du dich dabei gefühlt?
- In welchen Situationen musstest du deine Gefühle unterdrücken? Welche waren das? (Wie/wann) konntest du sie trotzdem zeigen?
5. Zeige Ergebnisse.
Helden werden zu Helden, wenn Sie das Elixier gewonnen, die letzte große Prüfung bestanden und – symbolisch oder echt, innerlich oder äußerlich – vom Leben gekrönt worden sind. Um das zu mitzuerleben, kaufen wir uns eine Eintrittskarte fürs Kino oder einen spannenden Roman. Zeigen Sie, was Ihre Hauptfigur erreicht hat – vor allem, wenn Sie selbst die Hauptfigur in der Geschichte Ihres Lebens sind.
Mache es in einem angemessenen Rahmen. Du hast die Herausforderungen und Schwierigkeiten auf dem Weg geschildert, aus denen heraus du in deine Kraft hineingewachsen bist. Erfolg ist dann nachhaltig, wenn er die Wurzeln nicht aus den Augen verliert, sondern menschlich und berührbar bleibt. Wahre Helden sind nicht jene, die egoistisch ihr Ding durchziehen und sich im Elfenbeinturm ihres Erfolges verschanzen, sondern die ihre Veränderung, ihr Wachstum und ihre Erkenntnisse, die sie auf ihrem Weg gesammelt haben, voller Demut und Dankbarkeit für die Gemeinschaft einsetzen.
Juliah hat ihr Restaurant „Serai“ genannt, das malaysische Wort für „Zitronengras“. Es ist übrigens in sattem Grün gehalten, wie der Regenwald in ihrer Heimat. Und sie hat die Satay-Erdnuss-Soße nach ihrem geliebten und längst verstorbenen Vater benannt, der diese Spezialität früher in Malaysia verkauft hat. Immer, so sagt sie, wenn sie die Soße zubereitet, erinnert sie sich an ihn. Die Geschichte steht auf ihrer Speisekarte. Ein Kunde hat sie einmal bestellt und ihr verraten: „Ich wusste nicht, was es ist, als ich es bestellt habe. Mich hat einfach die Geschichte berührt, dass Sie es nach Ihrem Vater benannt haben.“ Juliahs Familie lebt in ihrem Herzen weiter – und in ihrem Restaurant.